Ansprache 7. November

Professor Dietfrid Krause-Vilmar:
Jüdisches Leben in Kassel bis zum Jahre 1938


Ansprache an der Gedenkfeier zu den Novemberpogromen 1938

Am 7. November 2023 im Bürgersaal des Kasseler Rathauses

Über „Jüdisches Leben in Kassel bis zum Jahre 1938“ in einer zeitlich begrenzten Ansprache zu berichten, bringt jeden Redner in Schwierigkeiten. Dem reichhaltigen und vielseitigen Leben dieser Gemeinde, vor allem im 19. Jahrhundert, den beeindruckenden Persönlichkeiten und ihren Werken gerecht zu werden, kann unter diesen Umständen nicht gelingen. Ich bitte um Nachsicht, dass ich nur wenige Akzente setzen und Streiflichter aufscheinen lassen kann.

                                       
Die große jüdische Stadtgemeinde

Kassel hatte eine sehr große jüdische Gemeinde, die sich im 19. Jahrhundert gebildet hatte. Als Auftakt zur Emanzipation gilt das Dekret Jérômes, des Königs von Westphalen, vom 27. Januar 1808, in dem es im ersten Artikel unmissverständlich heißt, dass die Juden dieselben Rechte und Freiheiten wie die übrigen Untertanen genießen sollen. [Damit fielen die Schutzgelder, die Heiratserlaubnis und die zahlreichen Einschränkungen in der Berufs- und Niederlassungsfreiheit weg.] Mit einem Schlage war „zum ersten Mal in einem deutschen Land rechtlich die Gleichberechtigung der Juden vollzogen“.
[Jérôme hob kurze Zeit später die Zünfte auf, führte die Patentsteuer ein und schuf auch für die Juden die Gewerbefreiheit, sie waren nicht mehr von Ackerbau und Handwerk ausgeschlossen und ausschließlich auf den Handel beschränkt.]

Mit diesem Januardekret von 1808 war jedoch die Emanzipation der Juden erst eingeleitet, noch lange nicht erreicht. Ihnen wurden ihre Rechte nicht geschenkt. Sie mussten die allgemein proklamierten Rechte vor Ort gegen traditionelle Mächte, besonders gegen den oft hartnäckig auftretenden Widerstand durchsetzen. Erst die Anwesenheit des preußischen Staates in Hessen verwirklichte die bürgerliche Gleichstellung der Juden. Das Gesetz des Norddeutschen Bundes vom 3. Juni 1869 hob „alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte“ auf. Dabei war es von Bedeutung, dass die Rechtsgleichheit der Juden jeweils von „außen“ – von Frankreich und von Preußen – verfasst wurde. Die Mitte der Gesellschaft in Hessen war erst noch zu gewinnen.

Die Jüdische Gemeinde erreichte in kurzer Zeit eine in ihrer bisherigen mehrhundertjährigen Geschichte nie gekannte Größe. [Während die Anzahl der Gemeindemitglieder - sofern überhaupt die für eine Gemeindebildung erforderliche Größe von zehn Männern erreicht wurde - bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts ganz gering blieb und erst gegen Ende dieses Jahrhunderts anstieg,] und erreichte nach 1808 bislang ungekannte Höhen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stieg sie nochmals erheblich an (1880: 1756 Seelen; 1905: 2527 Seelen; 1925: 2750 Seelen). Die Jüdische Gemeinde in Kassel zählte damit, gemessen am Anteil an der gesamten Stadtbevölkerung, zu den großen Gemeinden im Deutschen Reich.

In Kassel wurde sehr früh eine öffentliche jüdische Schule eingerichtet, an der bereits im Jahre 1811 mehr als 100 Schüler unterrichtet wurden. Zur gleichen Zeit wurde in Kassel das erste jüdische Lehrerseminar in Deutschland eingerichtet. Auch eine Schule für Mädchen wurde in jener Zeit ins Auge gefasst; zu einer Gründung kam es jedoch nicht; die Pläne fielen der Wiederherstellung des Kurfürstentums zum Opfer. [Die Volksschule und das Lehrerseminar konnten sich über manche Widerstände und zeitweilige Schließungen hinweg bis in die Jahre der Weimarer Republik bzw. bis in die nationalsozialistische Zeit halten.]

Die Gemeinde war so vermögend geworden, dass sie im Jahre 1817 in Bettenhausen ein eigenes Krankenhaus begründen konnte, das bis 1880 bestand. Zahlreiche Vereinsgründungen brachten die zum Lebensprinzip gewordene Haltung der jüdischen Selbsthilfe zum Ausdruck. Lange Jahrzehnte hielt sich auch das bekannte Kasseler „Israelitische Waisenhaus“.

  Die große Synagoge

Seit dem Jahre 1822 begannen die Verhandlungen über den Neubau einer Synagoge, die mit der Einweihung der großen Synagoge in der Unteren Königsstraße im Jahr 1839 abgeschlossen wurden – fortan der Mittelpunkt des religiösen Lebens der Kasseler Juden und Jüdinnen. (Bild der Synagoge von außen zeigen).

Auch haben wir ein Unikat, das den Blick auf das Innenleben des Sabbatgottesdienstes in dieser Synagoge in elf Bildern zeigt. Wilhelm Thielmann fertigte in dreijähriger Arbeit diese Zeichnungen in den Jahren 1896-1899. Sie zeigen ganz realistisch – bis in die Biographien der abgebildeten Persönlichkeiten – einzelne Schritte, die die Akteure des Sabbat-Gottesdienstes von der Weihe des Sabbat am Freitagabend (einzelne Thielmann-Bilder projizieren) über die Aushebung der Thorarolle bis zum Ende des Gottesdienstes. Deutlich wird – besonders im Talar des Landrabbiners Dr. Prager – die Annäherung an Elemente der christlichen Religionsausübung, eine für das Kasseler bürgerliche Reformjudentum charakteristische Haltung, die nicht zuletzt bereits in der Architektur dieser Synagoge einen Ausdruck fand.

  Das Kasseler Reformjudentum

Die Kasseler Jüdische Gemeinde [hatte ihren Sitz in der Residenz- und Regierungsstadt Hessen-Kassels. Sie ] war nicht nur eine typisch städtische Gemeinde, sondern sie war ein Teil der Regierungsstadt selbst und so verstand sie sich. Es ist daher nicht zufällig, dass gerade aus der Kasseler Gemeinde manch erfolgreiche Karriere bis hin zu den Spitzen in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft ihren Anfang genommen hat. Diese von beruflichem und gesellschaftlichem Erfolg umgebenen Karrieren waren für das deutsch-jüdische Bürgertum im 19. Jahrhundert allgemein typisch.

Die „großen Familien“, die bei Paul Arnsberg genannt und gewürdigt werden, konnten meistens über mehrere Generationen ihre führende Stellung halten. Für die Geschichte und das Selbstverständnis dieser Familien sind im Zusammenhang mit ihrem gesellschaftlichen Aufstieg einige Charakteristika hervorzuheben. An erster Stelle steht zunehmende Assimilation, nicht zuletzt auch in religiöser Hinsicht, mit ihrem sozialen Umfeld. Bei vielen Familien wurde die Entfernung vom jüdischen religiösen Ausgangspunkt umso größer, je „selbstverständlicher“ die soziale, kulturelle und/oder ökonomische Integration in die „christlich“ -deutsche Gesellschaft gelang. Viele Juden begannen, ihren eigenen Weg im Verlassen der jüdischen Glaubensgemeinschaft als eine Zukunftslösung für das Zusammenleben von Deutschen und Juden zu erblicken. Eindrücklich lässt sich für das jüdische Bürgertum Kassels die „Ausdifferenzierung“ vom ökonomisch aufgestiegenen Bürgertum zum bildungsbürgerlichen Engagement hin zeigen. Fast alle herausragenden Denker in Wissenschaft und Kunst entstammten dem ökonomisch erfolgreichen Kasseler Bürgertum. Zu einem erfolgreichen Lebenslauf gehörte auch die entsprechende Mitteilung an die Nachwelt, sei es in Form von Stiftungen, Schenkungen oder Jubiläumsschriften. Diese dienten keineswegs ausschließlich oder überhaupt der Selbstdarstellung, sondern waren in fast allen uns bekannten Formen von sozialen Motiven, vom Gedanken der Wohltätigkeit gegenüber den ärmeren Mitbürgern begleitet. Freilich war damit auch das Privileg gegeben, jüdische Geschichtsschreibung mitzuprägen, was den weniger vermögenden Mittelschichten (z. B. Handwerkern und Ladenbesitzern, Inhabern kleinerer Geschäfte oder Kleinbetriebe) oder den jüdischen Arbeitern und Arbeiterinnen in der Stadt nicht möglich war; diese haben daher keine beredten Zeugnisse ihrer Tätigkeit hinterlassen. Schließlich fällt auf, dass im jüdischen Stadtbürgertum in staatlichen, ökonomischen und kulturellen Fragen ein ausgeprägt liberales Selbstverständnis und Wirken vorherrschte. Liberalität scheint nicht zuletzt auch in politischen Fragen unter den jüdischen Kasseler Bürgern ein einigendes Band gewesen zu sein, wobei das Spektrum nach links und rechts weit ausgemessen wurde.
[Gleichwohl ist nicht bekannt geworden, dass aus diesen Familien jemand zu ausgesprochen anti-liberalen politischen Parteien und Bewegungen wechselte.]

Diesem Kasseler Reformjudentum – und nur diesen Aspekt möchte ich heute verdeutlichen – verdankt die Stadt – kulturell, wirtschaftlich und politisch – bedeutende Beiträge und viele Bereicherungen des kulturellen Lebens. 

Ich könnte sehr, sehr viele Namen der Persönlichkeiten nennen, die für unsere Stadt etwas getan haben, die Teil der Stadtgesellschaft waren – auch wenn ihnen entsprechender Dank nicht zuteil geworden ist. Den Religionsphilosophen Franz Rosenzweig könnte ich nennen, den Künstler Alexander Fiorino, ebenso den Schriftsteller Salomon Mosenthal, Paul Julius von Reuter, Ludwig Horwitz mit seinen Beiträgen in der Jüdischen Wochenzeitung, und viele andere...

Ich beschränke mich auf zwei Persönlichkeiten und auf die Familie Gotthelft:

  Die Familie Gotthelft

Ein gutes Beispiel für gelebte Liberalität in Kultur und Gesellschaft stellt die Familie Gotthelft dar. Sie hatte sich diesen Nachnamen dem französischen Dekret von 1807 folgend gegeben. Sie entstammte lippe-detmoldischen Schutzjuden, deren einer Zweig sich seit Ende des 18. Jahrhunderts in Kassel niederließ. [Sie war in Geld- und Handelsgeschäften tätig, die mäßig gingen.] Sozialgeschichtlich von Bedeutung ist die Tatsache, dass die beiden Brüder Adolph und Carl für die 1841 gegründete Druckerei eine qualifizierte handwerkliche Fachausbildung als Schriftsetzer aufweisen konnten. Als Pioniere einer modernen Tageszeitung in Kassel entfalteten die beiden Brüder eine unermüdliche Aktivität, um den Kreis der Leserschaft zu verbreitern. Das „Casseler Tageblatt“ wurde eine vielgelesene Tageszeitung in der Stadt, die ab dem Jahre 1900 täglich in zwei Ausgaben bei einer Auflage von 21000 Exemplaren erschien. In der Weimarer Republik setzte sich dieser Aufschwung nicht fort: Der Anzeigenteil verringerte sich, wobei nationalsozialistische Boykottpropaganda gegen diese „in jüdischem Besitz“ befindliche Tageszeitung bereits mitgespielt haben mag: Am 30. 9. 1932 erschien die letzte Ausgabe dieser Zeitung.

Die Familie Gotthelft repräsentierte in ihrer Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert etwas für das Kasseler jüdische Bürgertum Charakteristisches: den handwerklich begründeten, mit Tüchtigkeit und neuen Ideen geschaffenen wirtschaftlichen Aufstieg (die Begründung der modernen Tageszeitung) in das besitzende Bürgertum (ein Schritt, der durch entsprechende Verheiratungen beschleunigt und gefestigt werden konnte), die freiheitliche Denkungsart (bis hin zu den Barrikaden in Berlin 1848, die Entfernung vom orthodoxen religiösen Ausgangspunkt), die Integration in das soziale Leben der Stadt, besonders in Kultur und Wissenschaft, und die Bereitschaft und Fähigkeit, darüber zu reden und zu schreiben. Zwischen den Erinnerungen Richard Gotthelfts (1857-1933) von 1922 und denjenigen von Frieda Sichel aus der folgenden Generation, aus dem Jahre 1975 liegt unübersehbar die Nazizeit. Bei Richard Gotthelfts fast verklärender, in jedem Fall sehr versöhnlichen Sichtweise (auch der Antisemitismus der 80er Jahre wird nicht erwähnt) wird seine Jugendzeit in der Mittelgasse (42-57), dem Zentrum der damaligen Altstadt, kaum anders beschrieben, als sie ein Kasselaner rückblickend hätte beschreiben können. Gotthelft spricht auch von „unserer lieben Vaterstadt Cassel“ (74). Als Frieda Sichel Deutschland 1935 verlässt, nimmt sie ihre Kinder mit auf den Friedhof in Bettenhausen, „um ihnen die gutgepflegten Gräber der sieben Generationen unserer Familie zu zeigen, die hier zwischen 1724 und 1935 begraben worden waren. Wir wollten, dass sie sich in späteren Jahren daran erinnerten, was es bedeutete, als unerwünschte Fremde in einem Land angesehen zu werden, wo die Familie tiefverwurzelt war und einen guten, angesehenen Namen zurückließ“.

  Dr. Adolf Hohenstein

Dr. Adolf Hohenstein war seit 1928 Polizeipräsident in Kassel. Er gehörte zu denjenigen Spitzenbeamten in Preußen, die von der parlamentarischen Republik und der rechtsstaatlichen Demokratie überzeugt waren und praktisch für sie eintraten. Er verstand sich wie sein Innenminister Albert Grzesinski als Teil des „Bollwerks Preußen“ gegen die Feinde der Republik. [Er gehörte deshalb zu den ersten Spitzenbeamten in Kassel, die nach dem Papen’schen Staatsstreich im Juli 1932 entlassen wurden.] Hohenstein war Jurist, seit 1920 Sozialdemokrat. Aufgrund seines jüdischen Glaubens, nicht zuletzt jedoch deshalb, weil er Recht und Gesetz auch gegenüber der Kasseler Nazibewegung durchzusetzen suchte, war er bei der politischen Rechten in Kassel einer der am stärksten gehassten Staatsbeamten.

Hohenstein hatte bereits am 5. Oktober 1929 aus seinem Dienstbereich berichtet, dass die NSDAP besonders im flachen Kasseler Umland „einen nicht zu unterschätzenden Aufschwung genommen“ habe. Und er forderte daher, „das staatsgefährdende Treiben der NSDAP zu beenden, weil die demagogische Propaganda der Nazis die Republik und ihre Vertreter systematisch angreife.“[3]

Unmittelbar nach dem sogenannten Preußenschlag wurde Adolf Hohenstein,[1] der als „Jude Hohenstein“ den Nationalsozialisten als Inkarnation des verhassten „Systems von Weimar“ galt,  als einer der ersten preußischen Spitzenbeamten am 22. Juli 1932 seines Amtes enthoben und in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Schließlich wurde Hohenstein nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 31. August 1933 formell entlassen. Die Nazis verfolgten ihn noch über das Jahr 1933 hinaus: Ein Rollkommando zerstörte seine Privatwohnung in der Nähe von Koblenz, wohin er sich zurückgezogen hatte. Als Folge eines Prozesses wurden Hohenstein schließlich die Pension, die Hinterbliebenenfürsorge und das Recht auf das Führen seiner Amtsbezeichnung entzogen.[1] Zunächst emigrierte er 1933 in die Tschechoslowakei, 1935 gelangte er nach Südafrika. Hohenstein starb 1937.  Ihm, der für Demokratie und Rechtsstaat konsequent eintrat, gebührt im Grunde ein Ehrenplatz in der Stadtgeschichte.

Stadtgeschichte.

Sigmund Aschrott

Sein Name zumindest ist mehrfach in der Stadt erhalten (Aschrottpark, Aschrottheim, der von den Nazis zerstörte Aschrottbrunnen). Einen ungewöhnlich erfolgreichen Weg als Unternehmer ist Sigmund Aschrott (1826-1915) gegangen, der im Jahre 1836 nach Kassel kam, zum Begründer der hiesigen Textilindustrie wurde, bevor er eine zweite Karriere als „Stadtbauer“ begann.  Nur auf diese Seite seiner Aktivitäten möchte ich kurz eingehen.

Es erscheint erstaunlich, wie konsequent Aschrott sich für die Entwicklung eines neuen Stadtteils, des Hohenzollernviertels (später ,Vorderer Westen’ genannt) verwandte und, als die städtischen Körperschaften ihm in seinen großen Plänen nicht folgen wollten, mehr oder weniger die Sache selber in die Hand nahm. In einem „gigantischen und riskanten Alleingang“ erwarb er riesige Ländereien, entwarf ein umfassendes städtebauliches Konzept für das Hohenzollernviertel, übernahm sämtliche Erschließungskosten (hier hat die Stadt auch nicht mitgespielt), stellte mit Josef Stübben einen Städtebauer von Format ein, ließ eine Kirche bauen, schuf große Parkanlagen, die den Wohnwert erhöhen sollten, und richtete für mehrere Straßen begrünte Flächen ein, wobei die Pflanzen z. T. aus holländischen Baumschulen importiert wurden. Auch verkehrspolitische Pläne für „sein“ Stadtviertel setzte er um. Er ließ die erste Dampfstraßenbahn bauen und setzte sich für den Bau eines Durchgangsbahnhofs im Westen der Stadt ein. Wieder überraschend - und letztlich nicht aufgeklärt - ist sein Abschied von Kassel im Jahre 1887 zu einem Zeitpunkt, als seine Stadtpläne sich auf dem Höhepunkt der Verwirklichung befanden. Er zog nach Berlin um, wo er bis an sein Lebensende blieb. Von dort aus hat er großzügige Schenkungen, auch an die Stadt Kassel, und Stiftungen veranlasst und noch manche Auszeichnung erhalten; er ist jedoch gesellschaftlich nicht mehr hervorgetreten. Was für einen Frankfurter Kaufmann unverständlich blieb, wie Aschrott nämlich „sich mit so viel Tatkraft und solchem Vermögenseinsatz in einen so toten Hund wie Kassel festlegen könne“ - ist es mit der Tatsache zu erklären, dass Kassel für den deutschen Juden Sigmund Aschrott seine Heimatstadt geworden war?



Die Zerstörung der Synagoge im November 1938


Adolf Hohenstein und Sigmund Aschrott waren zu dieser Zeit bereits nicht mehr am Leben, Frieda Sichel war in der Emigration in Südafrika; so blieb ihnen der Anblick dieses infernalischen Signals des 7. November 1938 in der Stadt ihres langjährigen Wirkens und Lebens erspart. In Kassel hatten sich an diesem Abend Gruppen in der Stadt zusammen getan, um gegen die jüdische Bevölkerung Kassels vorzugehen. Die Initiatoren sind bis heute nicht ermittelt worden. Hunderte von Zuschauern und Akteuren schlossen sich an und setzten die schlimmsten Ausschreitungen gegen die Juden in Gang, die die Stadt je gesehen hatte. Auf dem Weg zum Gemeindehaus wurden ein jüdisches Café und zahlreiche jüdische Geschäfte zerstört. Im Gemeindehaus selbst in der Kleinen Rosenstraße waren die Volksschule, die Gemeindeverwaltung sowie Vereins- und Versammlungsräume untergebracht. Die gesamte Inneneinrichtung wurde zerstört, das Inventar, darunter ein Harmonium, zerschellten auf der Straße. In den Abendstunden dieses 7. November versammelten sich in Kassel, wie ein Zeitzeuge berichtete, »so dreißig Mann in Zivil, alle mit den gleichen Stiefeln« in der Nähe der Synagoge, drangen in diese ein, schleppten Gebetsrollen, andere Kultusgegenstände, Vorhänge und Teile des Gestühls auf den Vorplatz vor dem Gebäude und zündeten sie an. Von Einspruch, Widerspruch oder Intervention, von unmittelbarer Hilfeleistung findet sich nur ganz vereinzelt etwas in den Akten. Der Terror ereignete sich vor den Augen der Öffentlichkeit. Betretenes Schweigen, neugieriges Zuschauen, angstvolles Sich Zurückziehen schienen vorherrschend gewesen zu sein. Ein Beispiel einer anderen Haltung ist überliefert: Die gegen Mitternacht von einem benachbarten Holzhändler, der das Ausgreifen der Flammen auf sein Lager befürchtete, alarmierte Feuerwehr konnte sich nur mit Mühe einen Weg durch die mit Menschen besetzte Synagoge bahnen, um die Feuer, die auch in der Synagoge gelegt waren, löschen zu können. Den vergeblichen Aufforderungen des Feuerwehrmannes von beiden Emporen aus, die Synagoge zu verlassen, folgte die Menge erst, nachdem er zu einer List gegriffen hatte: »Nachdem ich […] sah, dass ich allein nichts ausrichten konnte, ging ich auf die zuerst begangene Empore zurück und rief: ›Es ist festgestellt worden, dass die Gashähne geöffnet sind, infolge des Feuers besteht die Gefahr einer Explosion‹. Hierauf versuchten alle Personen die Synagoge schnellstens zu verlassen. Das Feuer konnte gelöscht werden.

Die Kasseler Synagoge war daher nicht einem Brand zum Opfer gefallen. Das Gebäude selbst war im Innern zwar furchtbar zerstört und geschändet, in seinem baulichen Bestand jedoch intakt geblieben. Und nun offenbarte sich die nationalsozialistische Strategie gegenüber dem deutschen Judentum: Die Synagoge sollte künftig keine Existenzberechtigung in der Stadt haben. An einigen Orten wurde die Synagoge bis auf die Grundmauern niedergebrannt (Hersfeld). In Kassel wurde die Synagoge Stein um Stein abgetragen. Die „Kasseler Post“ verwies auf eine Parkplatznot (!) am Holländischen Platz. Und die NS-Zeitung verkündete den Abriss der Synagoge, „um den jüdischen Schandfleck in der Unteren Königstraße für alle Zeiten auszulöschen.“ Überfallen wurden auch jüdische Wohnhäuser, Wohnungen und Geschäfte. Das Charakteristische hierbei war die Zerschlagung der jeweiligen Inneneinrichtung. Es ging um die Vernichtung jüdischen Lebens und Wohnens in Deutschland überhaupt.

Es besteht übrigens kein Zweifel daran, dass die wertvollen Steine der großen Synagoge nach den Abrissarbeiten von interessierter Seite wiederverwendet wurden. Bei Albrecht Rosengarten, dem Architekten der Synagoge,  wurden sie so beschrieben: „Alle Mauern sind von gelblich-weißem Bruchstein, alle Gesimse, sowie die Fenster- und Türeinfassungen von geschliffenem rötlichem Quaderstein. Die Verstärkungspfeiler des Risalits aber in abwechselnden Lagen von rotem und grau-gelblichem Quaderstein.“

Nachweise für die Wiederverwendung der Steine gestalteten sich als schwierig. Dem Zufall verdanken wir es jedoch, dass in einem Fall der Nachweis gelang. Die Ringmauer um die alte Dorflinde im Stadtteil Nordshausen wurde aus eben diesen Steinen gebaut. (Foto zeigen)

Dies Beispiel zeigt, dass die Versuche, jüdisches Leben und Wirken in der Stadt bis auf den letzten Stein auszulöschen, ebenso wenig gelangen wie die späteren Bemühungen der Verwischung und Beschönigung. Fast immer bleiben Spuren als letzte Zeugen der Untat erhalten.

 


Der

Foto (Carl Eberth ca. 1930-1933) und  Erläuterungstext aus der Ausstellung "1918",  Stadtmuseum Kassel 2019

Stolperstein an der Westseite

Foto und die Ansicht links auf einer Postkarte ca. 1920, Sammlung FS

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