Historische Exkursion
Bergpark-Orte verstehen
Um Schloss und Bowlinggreen
Eine eigenwillig angelegte und vielleicht auch überraschende Betrachtung, Jürgen Fischer, 10/2024
"Wilhelms-Höhe // eine Parthie des Weissensteins bei Cassel." "Nach der Natur gezeichnet von Nahl.", "die Figuren von G. Schleich", "gestochen von Schroeder", 1795 als Druck erschienen.
Digitalisat: Staatliche Kunstsammlungen Dresden skd - A 1962-630.
Johann August Nahl d. J. - 1792 Professor an der Kasseler Kunst Akademie, 1815 Direktor der Malklasse,
Friedrich Schröder - Stecher, Johann Carl Schleich - Figurenzeichner. Erster Kupferstich aus einer Serie von vier Ansichten: Wilhelms-Höhe, Teufels-Brücke, Felsen-Burg, Aqueduct.
Alle Stiche sind untertitelt mit: "Eine Parthie des Weissensteins". Verleger ist E. Engelbrecht in Augsburg, der F. Schröder und C. Schleich beschäftigt.
Wir sind Zuschauer, betrachten zunächst die Schlossanlage, dann die Personen im Vordergrund, um uns von da aus die Bildmitte anzuschauen. Dort auf dem Bowlinggreen promenieren zahlreiche Personen entlang von Wegen. Das alles nehmen wir von einer kleinen Anhöhe aus wahr. An unserem Standort steht heute der Apollontempel, in Bergparkführern auch als Jussow-Tempel bezeichnet.
Rechts am Bildrand springen die Wasser der großen Fontäne. Sie haben ihre Höhe erreicht. Der Wind weht die herabfallenden Tropfen in einem breiten Schwall zur Mitte des Geschehens. Vor diesem weißen Band kommt eine Personengruppe vorn im Bild wirkungsvoll zur Geltung, ein Paar mit einem Sohn, einem Hund und dahinter der ältere Sohn mit der kleinen Tochter auf dem Arm. Alle gehen auf die Fontäne zu, der Junge zeigt mit ausgestrecktem Arm auf das Schauspiel, die Frau hebt ihren Fächer, als wollte sie sich vor der Gischt schützen, ihren Arm hat sie bei ihrem Gatten eingehakt. Dieser schaut sie an, links neben ihr schreitend, außen den Spazierstock in der Hand und etwas auch uns Betrachtern zugewandt. Die Mimik deutet ein „Habe ich es dir nicht versprochen!“ an. Der Kleidung nach handelt es sich um eine gut situierte Familie. Der Herr trägt eine kleine Perücke mit Zopf, obenauf ein Dreispitz. Ebenso die kurze Jacke, Kniebundhose, Strümpfe und Halbschuhe weisen ihn als modisch gekleideten Herrn mit Status aus.
Das trifft ebenfalls auf die Dame zu. Sie zeigt sich im Stil Anglaise, der englischen Mode. Auf dem Kopf ein Mini-Zylinder mit Schleifenband, beides versteckt die Haare. Das Kleid fällt faltenreich und lang, also mit viel hochwertigem Stoff bis auf den Boden. Der breite Reverskragen bedeckt die Schultern, lässt den Hals aber frei, das breite Gürtelband aus dem gleichen verzierten Stoff betont die Taille. Der Junge ist mit langen Hosen und Jacke bequem gekleidet, einen Hut mit Feder hat er abgenommen, hält ihn locker nach unten in der linken Hand. Der junge Mann mit dem Kind auf dem Arm trägt eine kurze Jacke und eine knielange Hose, die Schnallenschuhe fallen auf, ebenso der Hut mit Krempe.
Wir betrachten eine Familie aus der wohlhabenden Bürgerschaft beim Spazieren gehen. Die Gruppe nehmen wir wie auf einer Theaterbühne wahr, im Vordergrund positioniert, im starken Strich hervorgehoben gegenüber dem teilweise nur angedeuteten Geschehen dahinter. Nahl verschafft uns einen dreidimensionalen Eindruck, als würden wir in einen Guckkasten hineinschauen. Die mit wenigen Strichen hell gehaltene Architekturansicht der Schlossanlage geht nach rechts in die matte Darstellung von Landschaft über. Weit hinten sind Häuser zu erkennen, eine Mühle überragt das Dorf, die Gebäude sind niedrig am Hang platziert, im Stil neutral gezeichnet, ohne ihre chinoise Anmutung erkennbar zu geben. Der Fontänenteich zieht sich zwischen dem Bowlinggreen
und, im Vordergrund, dem mit jungem Baumbestand bestückten Hügel nach links
breitflächig entlang. Erst beim
zweiten Betrachten registrieren wir die zahlreichen Personen auf der weiten Rasenfläche dahinter, die allein umhergehen, zu zweit und eingehakt, die sitzen, sich unterhalten, den Kindern beim Spielen zuschauen. Eine solche Vielfalt an Figurinen mit unterschiedlichem Habitus in einem Prospekt zu zeigen, ist bislang unüblich.
Die Poller auf der großen Fläche dazwischen markieren Wege. Der in der Bildmitte führt zum Weissensteinflügel, der vordere folgt dem Bogen, mit dem sich der östliche Teichrand leicht geschwungen vom Bowlinggreen absetzt.
Leicht irritiert versuchen wir, die heutigen Betrachter, die linke Bildmitte zu verorten. Eine Insel hinter einem Bachlauf? Nein, es ist eine Wasserstraße, 1792 hier angelegt, Diese fasst das vom Aquädukt kommende Wasser ein, das jetzt den Peneuskaskaden hinunter in den Fontänenteich fließt. Dahinter blicken wir auf einen Hügel und einige Bosketts. Friedrich II. ließ hier ca. 1770 einen Schneckenberg mit dem Apollon-Tempel obenauf errichten, von Johann Heinrich Tischbein d. Ä. sind Darstellungen dazu überliefert. Der Apollon-Berg wird 1799 abgetragen, zu einem Hang umgestaltet, damit er sich gefällig in das neue Landschaftsbild rund um das Bowlinggreen einpasst. Wir nutzen heute die am Hügel aufgestellten Bänke, um von hier aus beschaulich das Aufsteigen der Fontäne zu erwarten. Die kleine Anhöhe rechts krönt heute der Jussow-Tempel. Der Tholos wird auch als Apollon-Tempel bezeichnet, als Verweis auf den Apollon-Hügel gegenüber. Den Rundbau lässt Oberhofbaudirektor Heinrich Christoph Jussow, Architekt des Corps de Logis und der Löwenburg sowie Landschaftsplaner der romantischen Wasserkunst, bis 1818 errichten.
Unser Stich nimmt zentrale Gedanken des projektierten Landschaftsgartens vorweg. Johann August Nahl d. J. zitiert Ideen und konkrete Planungen für die Parkgestaltung. Die Szenerien versetzen uns in die Umbruchszeit, die sich bereits in den Jahren kurz vor 1800 abzeichnet, im Wortsinn, auf Zeichnungen und in Gemälden sichtbar wird. Der Bergpark lädt die Bürger Kassels und die Besucher der Stadt zum Spazierengehen ein.
Das können wir nachspüren, wenn wir ausgehend von einer Betrachtung des Prospektes durch die Landschaft spazieren. Das ist mit einem Erkunden verbunden und mündet in die Idee, eine
Historische Exkursion anzubieten: Um Schloss und Bowlinggreen.
Was gehört zur zentralen Bildaussage? Miteinander konkurrieren die Blickwinkel:
1. die Schloss-Anlage,
2. der Mulanghang,
3. die betonten Personen auf dem Weg hin zur großen Fontäne,
4. die zahlreichen Bosketts, als sich so kontrastreich abhebende Baumgruppen,
5. Der Habitus der Einzelpersonen und Gruppen auf dem Bowlinggreen,
6. die Höhe der Fontäne, platziert im Landschaftsgarten außerhalb der Mittelachse,
7. das gemeinsame Spazierengehen von Personen unterschiedlicher Gruppen.
Zur ab 1795 datierten Bildserie gehören drei weitere Stiche mit Vorzeichnung von J. H. Nahl. Der ist bei Johann Heinrich Tischbein in die Lehre (Akademie) gegangen und ebenso geschult durch die Mitarbeit in der Bildhauerwerkstatt des Vaters, der die Rossebändiger (Karlsaue, Rand des Bowlinggreens, Beginn der Mittelachse) und die Statue (Landgraf Friedrich II.) auf dem Friedrichsplatz geschaffen hat. Johann August Nahl d. J. hat in Paris und Rom studiert, ist mehrmals nach Italien gereist, hat über den Gotthard-Pass kommend Halt gemacht und die Teufelsbrücke über die wilde Reuss gezeichnet, ebenso zuvor den Wassersturz im Tal des Anio bei Tivoli, südlich von Rom. Die Ansicht ähnelt nicht zufällig dem Blick von Norden auf den Aquädukt in der Wilhelmshöhe, wie Ihn Stammbuchblätter z. B. aus der Werkstatt von Wiederhold aus den Jahren 1810 - 1820 abbilden.
Die insgesamt vier Stiche der Serie erscheinen als Drucke, beginnend mit unserem Bild „Wilhelms Höhe“. Es folgen „Felsenburg“ (Löwenburg), „Aqueduct“, „Teufelsbrücke“. Auch auf diesen Stichen sind modisch gekleidete Personen auffallend in Bewegung und Körperhaltung in Szene gesetzt. Sie schauen sich das jeweilige Wassertheater an, unterhalten sich angeregt, sitzen am Rand des Teiches auf dem Boden. F. Schröder, der Reproduktionsstecher im Augsburger Verlag, setzt die Vor-Zeichnungen Nahls in fein gestochene Linien um, die kunstvoll ausgeführt je nach Tiefe und Breite einen wirkungsvollen hell-dunkel Kontrast erzeugen. C. Schleich hat sich auf Darstellungen spezialisiert, die Stimmungen zum Ausdruck bringen, am Habitus und in der Figuration von einzelnen Personen und Personengruppen zu erkennen.
Unser Stich ist noch aus einem anderen Grund interessant. Es ist ein Prospekt, dem Landgrafen gewidmet und diesem als Anschauungsstück vorgelegt – demnach eine Gesamtansicht auch als Entscheidungshilfe für die Planungen zur Schloss-Anlage und die damit verbundene Umgestaltung des Parks im englischen Stil, zum Landschaftsgarten. Zudem, solche Drucke ließen sich sehr gut verkaufen.
Landgraf Wilhelm IX. hat 1787, also acht Jahre zuvor, seinen Hofkupferstecher und Mitglied der Kunstakademie Gotthelf Wilhelm Weise beauftragt, eine Zeichnung von Johann Heinrich Tischbein in einen Kupferstich zu übertragen. Gedruckt wird die „Ansicht des Schlosses Weißenstein von Norden“. Mit dieser Darstellung schauen wir ebenfalls auf Schloss, Bowlinggreen und Fontäne. Ein Vergleich ist aufschlussreich für die Überlegungen hier. Lässt sich auch klären, dass Johann August Nahl d. J. 1795 eine eigene Zeichnung anfertigt und ebenso, warum er die Druckplatten im renommierten Augsburger Verlag herstellen lässt, nämlich gestochen von dortigen Künstlern und nicht von G. W. Weise, der bis 1810 in Kassel arbeitet und mehrere künstlerisch hochwertige Stiche angefertigt hat.
Mehr
...