Um Schloss und Bowlinggreen

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Um Schloss und Bowlinggreen
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Eine ungewöhnlich angelegte und vielleicht auch überraschende Betrachtung, Jürgen Fischer, 10/2024

"Wilhelms-Höhe // eine Parthie des Weissensteins bei Cassel." "Nach der Natur gezeichnet von Nahl.", "die Figuren von G. Schleich", "gestochen von Schroeder". Staatliche Kunstsammlungen Dresden skd - A 1962-630


Johann August Nahl d. J. - 1792 Professor an der Kasseler Kunst Akademie, 1815 Direktor der Malklasse, 
Friedrich Schröder - Stecher, Johann Carl Schleich - Figurenzeichner. Erster Kupferstich aus einer Serie von vier Ansichten:  Wilhelms-Höhe, Teufels-Brücke, Felsen-Burg, Aqueduct.
Alle Stiche sind untertitelt mit: "Eine Parthie des Weissensteins". Verleger ist E. Engelbrecht in Augsburg, der F. Schröder und C. Schleich beschäftigt. 

Wir sind Zuschauer, betrachten zunächst die Schlossanlage, dann die Personen im Vordergrund, um uns von da aus die Bildmitte anzuschauen. Dort auf dem Bowlinggreen promenieren zahlreiche Personen entlang von Wegen. Das alles nehmen wir von einer kleinen Anhöhe aus wahr. An unserem Standort steht heute der Apollontempel, in Bergparkführern auch als Jussow-Tempel bezeichnet.
Rechts am Bildrand springen die Wasser der großen Fontäne. Sie haben ihre Höhe erreicht. Der Wind weht die herabfallenden Tropfen in einem breiten Schwall zur Mitte des Geschehens. Vor dem breiten weißen Band kommt eine Personengruppe vorn im Bild wirkungsvoll zur Geltung, ein Paar mit einem Sohn, einem Hund und dahinter der ältere Sohn mit der kleinen Tochter auf dem Arm. Alle gehen auf die Fontäne zu, der Junge zeigt mit ausgestrecktem Arm auf das Schauspiel, die Frau hebt ihren Fächer, als wollte sie sich vor der Gischt schützen, ihren Arm hat sie bei ihrem Gatten eingehakt. Dieser schaut sie an, links neben ihr schreitend, außen den Spazierstock in der Hand und etwas auch uns Betrachtern zugewandt. Die Mimik deutet ein: „Habe ich es nicht versprochen!“ an. Der Kleidung nach handelt es sich hier um eine gut situierte Familie. Der Herr trägt eine kleine Perücke mit Zopf, obenauf ein Dreispitz. Ebenso die kurze Jacke, Kniebundhose, Strümpfe und Halbschuhe weisen ihn als modisch gekleideten Herrn mit Status aus. 
 
Das trifft ebenfalls auf die Dame zu. Sie zeigt sich im Stil Anglaise, der modernen englischen Mode. Auf dem Kopf ein Mini-Zylinder mit Schleifenband, beides versteckt die Haare. Das Kleid fällt faltenreich und lang, also mit viel hochwertigem Stoff bis auf den Boden. Der breite Reverskragen bedeckt die Schultern, lässt den Hals aber frei, das breite Gürtelband aus dem gleichen verzierten Stoff betont die Taille. Der Junge ist mit langen Hosen und Jacke bequem gekleidet, einen Hut mit Feder hat er abgenommen, hält ihn locker nach unten in der linken Hand. Der junge Mann mit dem Kind auf dem Arm trägt eine kurze Jacke und eine knielange Hose, die Schnallenschuhe fallen auf, ebenso der Hut mit Krempe.
 
Wir betrachten eine Familie aus der wohlhabenden Bürgerschaft beim Spazierengehen. Die Gruppe nehmen wir wie auf einer Theaterbühne wahr, im Vordergrund positioniert, im starken Strich hervorgehoben gegenüber dem teilweise nur angedeuteten Geschehen dahinter. Nahl verschafft uns einen dreidimensionalen Eindruck, als würden wir in einen  Guckkasten hineinschauen, als würden wir vor der nahen Landschaft stehen. Die mit wenigen Stichen hell gehaltene Architekturansicht der Schlossanlage geht nach rechts in die ebenfalls hell gehaltene Darstellung von entfernter Landschaft über. Weit hinten sind Häuser zu erkennen, eine Mühle überragt das Dorf, die Gebäude sind niedrig am Hang platziert, im Stil neutral gezeichnet, ohne ihre chinoise Anmutung zu erkennen zu geben. Der Fontänenteich zieht sich zwischen dem Bowlinggreen und dem mit jungem Baumbestand bestückten Hügel nach links breitflächig entlang. Erst beim zweiten Betrachten registrieren wir die zahlreichen Personen auf der weiten Rasenfläche dahinter und die Poller, die den Weg markieren. Diese folgen dem Bogen, mit dem der östliche Teichrand so geschwungen sich vom Bowlinggreen abgrenzt.
 
Die linke Bildmitte versuchen wir zu verorten. Was wie ein Bachlauf aussieht, ist dort erst 1792 angelegt worden. Diesen bildet das vom Aquädukt abfließende Wasser, das über die Peneuskaskaden hinunter in den Fontänenteich fließt. Die Störsteine sehen etwas verloren, unmotiviert gesetzt aus. Die Idee, dass sich durch diese die Wasser mit Sauerstoff anreichern und das Nass aufschäumen, ist dem Künstler wohl noch nicht als prägendes Element der romantischen Wasserbilder bewusst. Dahinter blicken wir auf einen Hügel und einige Bosketts. Friedrich II. ließ hier ca. 1770 einen Schneckenberg mit dem Apollon-Tempel obenauf errichten, von J. H. Tischbein sind Darstellungen dazu überliefert. Der Apollon-Berg ist abgetragen, zu einem Hang umgestaltet, damit er sich gefällig in das Landschaftsbild einpasst. Wir nutzen heute die dort aufgestellten Bänke, von denen aus sich das Aufsteigen der Fontäne abwartend und beschaulich erwarten lässt. 
Die kleine Anhöhe rechts krönt der Jussow-Tempel. Der Tholos wird auch als Apollon-Tempel bezeichnet, als Verweis auf den Apollon-Hügel gegenüber. Oberhofbaudirektor H. C. Jussow, Architekt des Corps de Logis und der Löwenburg sowie Landschaftsplaner der romantischen Wasserspiele, lässt den Rundbau 1818 errichten.
 
Unser Stich nimmt zentrale Gedanken des projektierten Landschaftsgartens vorweg. J. A. Nahl zitiert Ideen und konkrete Planungen für die Parkgestaltung. Die Szenerien versetzen uns in die Umbruchszeit kurz vor 1800. Der Bergpark lädt die Bürger Kassels und die Besucher der Stadt zum Spazierengehen ein.
 
Das können wir nachspüren, wenn wir ausgehend vom Stich spazieren gehen und die Fläche zwischen Schloss und Fontänenteich als Landschaftsbild wahrnehmen, aufgefordert zu 

einer Historischen Exkursion: Um Schloss und Bowlinggreen.
 
Was gehört zur zentralen Bildaussage? Miteinander konkurrieren 
1. die Schloss-Anlage, 
2. der Mulanghang,
3. die hervorgehobenen Personen auf dem Weg hin zur großen Fontäne, 
4. die zahlreichen Bosketts, als sich so kontrastreich abhebende Baumgruppen, 
5. die Menge der Einzelpersonen und Gruppen auf dem Bowlinggreen,
6. Teich und Fontäne platziert außerhalb der Mittelachse,
7. das gemeinsame Spazierengehen von Personen unterschiedlicher Gruppen.
 
Zur Bildserie gehören drei weitere Stiche mit Vorzeichnung von J. H. Nahl. Der ist bei  Johann Heinrich Tischbein in die Lehre (Akademie) gegangen und ebenso geschult durch die Mitarbeit in der Bildhauerwerkstatt des Vaters, der die Rossebändiger (Karlsaue, Beginn der Mittelachse) und die Statue auf dem Friedrichsplatz (Landgraf Friedrich II.) geschaffen hat. Die vier Stiche der Serie erscheinen als Drucke ab 1795, beginnend mit unserem Bild „Wilhelms Höhe“. Es folgen „Felsenburg“ (Löwenburg), „Aqueduct“, „Teufelsbrücke“. Auch auf diesen Stichen sind modisch gekleidete Personen auffallend im Habitus in Szene gesetzt. Sie schauen sich das jeweilige Wassertheater an, unterhalten sich angeregt, sitzen am Rand des Teiches auf dem Boden. F. Schröder, der Reproduktionsstecher im Augsburger Verlag, setzt die Vor-Zeichnungen Nahls in fein gestochene Linien um, die kunstvoll ausgeführt einen wirkungsvollen hell-dunkel Kontrast erzeugen. C. Schleich hat sich auf Darstellungen spezialisiert, die  Stimmungen zum Ausdruck bringen, im Habitus und in der Figuration von einzelnen Personen und Personengruppen zu erkennen. 
 
Unser Stich ist noch aus einem anderen Grund interessant. Es ist ein Prospekt, dem Landgrafen gewidmet und diesem als Anschauungsstück vorgelegt - eine Gesamtansicht als Entscheidungshilfe für die geplante Schloss-Anlage und die damit verbundene Umgestaltung des Parks im englischen Stil, also zum Landschaftsgarten. 
Landgraf Wilhelm IX. hat 1787, acht Jahre zuvor, seinen Hofkupferstecher und Mitglied der Kunstakademie Gotthelf Wilhelm Weise beauftragt, eine Zeichnung von Johann Heinrich Tischbein in einen Kupferstich umzuformen. Gedruckt wird die „Ansicht des Schlosses Weißenstein von Norden“. Mit dieser Darstellung schauen wir ebenfalls auf Schloss, Bowlinggreen und Fontäne. Ein Vergleich müsste aufschlussreich sein, unabhängig davon ob zu klären ist, warum Nahl 1795 eine eigene Zeichnung anfertigt. Ebenso unklar bleiben wird, warum er die Druckplatten im renommierten Augsburger Verlag herstellen lässt, also gestochen von dortigen Künstlern und nicht von G. W. Weise, der bis 1810 in Kassel arbeitet und mehrere künstlerisch hochwertige Stiche angefertigt hat.
 
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